Zitatblock
Annie, ga niet de wereld in vol haat. Daar heb ik je niet voor gered.
Personenkasten von Andreas Lütkenhaus
„Annie, gehe nicht in die Welt voller Hass. Dafür habe ich dich nicht gerettet.“
In einem Interview von 2018 gab Johanna Reiss an, dies habe Johan Oosterveld zu ihr gesagt, als sie beide am 1. April 1945, dem Tag der Befreiung Usselos, aus dem Haus gegangen seien, um die kanadischen Soldaten zu begrüßen, und er an ihren verkümmerten Beinen gesehen habe, was der Krieg ihr angetan habe.
Die einfache Bauernfamilie Oosterveld (Johan, seine Frau Dientje und Opoe, die Oma) hatte das zu diesem Zeitpunkt noch 12jährige jüdische Mädchen Annie de Leeuw, wie Johanna Reiss als Kind hieß, und ihre ältere Schwester Sini mehr als zweieinhalb Jahre in ihrem kleinen Haus vor den Nazis versteckt.
Im Unterricht der letzten Monate im Fach Gesellschaftslehre haben wir das Buch von Johanna Reiss „Und im Fenster der Himmel“ gelesen, in dem Johanna eindrucksvoll von ihren Erinnerungen an ihre Kindheit im Versteck berichtet. Wir haben intensiv zu dem Buch gearbeitet, haben uns über die Zeit des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und der Judenverfolgung und -vernichtung informiert. Wir haben am Gymnasium in Haltern am See einem Vortrag der Holocaust-Überlebenden Eva Weyl gelauscht, die jahrelang mit ihren Eltern im niederländischen Lager Westerbork interniert war, haben eine Dokumentation über das Lager Westerbork gesehen, „Stolpersteine“ in Recklinghausen fotografiert und die Fotos zu den vielen Fotos und Karten zur Geschichte von Annie im Klassenraum hinzugehängt. Und wir haben parallel die politischen Ereignisse in Deutschland und die zunehmenden Übergriffe auch auf Jüdinnen und Juden in den Blick genommen.
Nun war es endlich an der Zeit, vor Ort in Winterswijk, dem Geburtsort Annies, und in Usselo, dem Ort ihres Verstecks bei den Oostervelds, auf Spurensuche zu gehen.
Dank der großzügigen finanziellen Unterstützung der Evangelischen Kirchengemeinde Recklinghausen-Altstadt und mit der planerischen Hilfe von Sixtina Harris vom „Kolle Kaal Förderverein e.V. Borken“ konnten wir tatsächlich nach Winterswijk und Usselo fahren.
Am 26.06.2024 trafen wir uns morgens schon um 7.20 Uhr an der Schule und machten uns mit dem Bus auf den Weg nach Winterswijk, wo uns der Ehrenamtler Herr Verwohlt aus Stadtlohn am Museum der alten Textilfabrik Tunte erwartete, um uns in den dortigen Räumen zu begrüßen, uns einen kurzen historischen Abriss zu den Hintergründen der Geschichte Annies zu geben und uns einen ca. 20minütigen Film zu Annies Geschichte zu zeigen.
Anschließend schauten wir uns dort eine kleine Ausstellung an. Besonders beeindruckend war dabei der Nachbau des Schranks, in dem sich Annie und Sini manchmal eine Nacht lang verstecken mussten, wenn die Deutschen eine Razzia durchführten. Johan hatte den Schrank mit einer doppelten Rückwand versehen, hinter der sich die Mädchen beengt stehend verbergen konnten. Zwei Schülerinnen durften es ausprobieren, sich dort hinein zu quetschen.
An einer Wand in dieser Ausstellung steht auch das Zitat Johans, das am Beginn dieses Berichts wiedergegeben ist:
Im Anschluss gingen wir zur Winterswijker Synagoge, in der uns dann Herr Verwohlt einiges über die jüdische Religion erzählte. Diese Synagoge hatte auch Annies Familie, Vater und Mutter de Leeuw mit ihren Töchtern Rachel, Sini und Annie, regelmäßig besucht. Im Nachbargebäude war ein Versammlungsraum untergebracht, in dem nach dem Verbot für jüdische Kinder, öffentliche Schulen zu besuchen, der Schulunterricht für die jüdischen Schülerinnen und Schüler stattfand.
Bei herrlichem Wetter folgte nun ein Stadtrundgang auf den Spuren der Kindheit Annies. So erreichten wir den Winterswijker Bahnhof, wo früher ein Süßigkeitenautomat hing, aus dem Annie sich gerne Süßigkeiten holte. Das Geld, das Annie von ihrer kranken Mutter im Krankenhaus bei Annies letztem Besuch dort erhielt, warf Annie jedoch nicht, wie von der Mutter gedacht, in den Automaten, sondern verwahrte die beiden Münzen als Erinnerung an dieses letzte Treffen mit der Mutter. Außerdem erinnert eine Gedenktafel am Bahnhof an die über 300 Winterswijker Jüdinnen und Juden, die von hier über das Zwischenlager Westerbork in die Vernichtungslager deportiert wurden. Kurz darauf erreichten wir Annies Elternhaus, später dann das alte Rathaus, in dem Herr Bos, eigentlich Tierarzt, von den Nazis bestimmt als Bürgermeister fungierte und wo Annie sich vom Bürgermeister Bos als jüdisches Mädchen die Erlaubnis holen musste, überhaupt ihre jüdische Mutter im Krankenhaus besuchen zu dürfen. Herr Bos war der Vater von Annies früherer bester Freundin, die aber nicht mehr mit Annie spielen durfte, als die Nazis in den Niederlanden die Macht ergriffen.
Gegenüber besuchten wir ein eindrucksvolles Mahnmal für die ermordeten jüdischen Bürgerinnen und Bürger von Winterswijk, namentlich aufgeführt Frauen und Männer, Kinder und Säuglinge, alte Menschen. Und hinter den allermeisten Namen als Todesort genannt Auschwitz oder Sobibor. Ein anderer Teil des Denkmals erinnert an die gefallenen Soldaten von Winterswijk.
Nach einer Mittagspause im Zentrum von Winterswijk machten wir uns auf den Weg nach Usselo zum alten Haus der Oostervelds, das gleichzeitig auch das Versteck für Annie und Sini war. Für 6 Wochen hatten unten im Haus sogar deutsche Soldaten ein Büro eingerichtet, sodass Annie und Sini in dieser Zeit völlig geräuschlos den Tag oben im Zimmer verbringen mussten. Man kann sich nicht vorstellen, wie es den Mädchen damit ergangen sein muss. Einmal haben wir 5 Minuten still sitzend und schweigend im Klassenraum gesessen, um zu spüren, wie lang einem die Zeit wird, wenn man nichts tun darf. Es kam uns vor wie eine Ewigkeit.
In das frühere Haus der Oostervelds konnten wir leider nicht hinein, da das Haus bewohnt ist, aber die nette Eigentümerin, die aus dem Haus kam, als wir mit dem Bus dort hielten, sprach eine Weile mit uns, zeigte uns ihren Ordner mit alten Fotos vom Inneren des Hauses und erlaubte uns, auf den Hinterhof zu gehen, sodass wir auch die Fenster des Sommerzimmers sahen, aus dem Annie und Sini immer hinausgesehen hatten.
Zuletzt besuchten wir den nahegelegenen Friedhof, wo wir das Grab von Johan und Dientje und das Grab von Opoe suchten und fanden. Auf dem Grab von Johan und Dientje legten wir einen selbst gestalteten Stein ab mit der Inschrift „Rust Zacht“ („Ruhet sanft“).
Von Usselo aus kehrten wir mit dem Bus gegen 16.45 Uhr nach Recklinghausen zurück – Ende eines beeindruckenden Ausflugs, den uns die Evangelische Kirchengemeinde Recklinghausen-Altstadt möglich gemacht hat. Vielen Dank!
Klasse 8.1, im Juni 2024